Datum:
22. Apr 2016 - 24. Apr 2016Beginn: 13:00 Uhr
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siehe untenWer malt unsere Menschenbilder?
Aus der Erziehungskunst, Juli 2016:
Ende April fand an der Freien Waldorfschule in Dinslaken die 24. Bundesschülerratstagung zum Thema »Wer malt unsere Menschenbilder?« statt. Die halbjährlichen Tagungen werden von der WaldorfSV organisiert.
Um 13 Uhr waren die ersten Schüler schon angereist und genossen die Sonne auf dem Schulhof. Um 15 Uhr war es dann schon richtig voll, ein fröhliches Gewimmel von Waldorfschülern aus ganz Deutschland.
Nach den Kennenlernspielen begann es mit einem ersten Plenum. Die Workshops folgten, man schloss erste Freundschaften, begegnete bekannten Gesichtern. Es gab zum Beispiel Workshops zum Thema Gesang, Parcour und Improvisationstheater, insgesamt zehn an der Zahl. In den Arbeitsgruppen setzten sich die Teilnehmer mit dem Tagungsthema auseinander.
Wie kann es sein, dass in einer doch eigentlich so fortschrittlichen und weltoffenen Gesellschaft so viel Hass gegenüber Flüchtlingen zu finden ist? Kann eine aufgeklärte Gesellschaft Parteien wie die AfD akzeptieren? Wie entsteht ein Menschenbild und von welchen Weltanschauungen werden wir gelenkt? Welche Weltanschauung leben wir? – Das waren Fragen einiger Arbeitsgruppen und wir konnten das Tagungsthema nicht passender zu dieser Zeit wählen.
Ein Schüler schilderte seine Beweggründe, die ihn und einen Mitschüler dazu veranlassten, an ihrer Schule eine politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Projektwoche zu organisieren. Außerdem führte er uns lebhaft vor Augen, dass das Schulsystem, auch an Waldorfschulen, noch viel zu sehr auf Benotungen ausgelegt sei. Was sagt eine Note über einen wirklich aus? Dass er schlau ist? Oder dass er fleißig lernen kann? Etwas, was ihn vielleicht gar nicht Feuer und Flamme sein lässt? Wir Schüler müssen die Schule und die Welt mitgestalten. Wir müssen sie nachhaltig mitgestalten und wir müssen uns politisch engagieren und dafür kämpfen, ein Mitspracherecht zu erhalten. Denn wir wollen nicht, dass die Welt, in der wir leben und leben werden, nur von Erwachsenen bestimmt wird und vor allem nicht von solchen, die noch nicht verstanden haben, dass wir nachhaltig leben müssen und wollen.
Der Mensch als Computer, Optimierungsmaschine oder raffiniertes Tier
Henning Kullak-Ublick vom Bund der Freien Waldorfschulen schloss in seinem Vortrag über die drei unsere Zeit beherrschenden Menschenbilder an. Der Mensch sei ein raffinierter Mechanismus, ein Biocomputer und die heutige evolutionäre Aufgabe sei die Vermehrung der Intelligenz.
Als Beispiel für dieses Menschenbild nannte er die Bemühungen von Google, die technische Entwicklung soweit voranzutreiben, dass man mittels Gedanken Avatare steuern könne, was schließlich dazu führe, die irdische Unsterblichkeit zu erreichen, wenn die Vermehrung der Intelligenz völlig ohne Menschen von statten gehen könnte. Ein weiteres dominantes Menschenbild sei das Bild des Menschen als rein biologisches Wesen. Durch Gentechnik würde man den Bioapparat des Menschen optimieren und Fehler beheben können. Das dritte Menschenbild sei das Bild, der Mensch sei ein raffiniertes Tier, das dressiert werden müsse. In der Psychologie ist dieses Bild als Behaviorismus bekannt. Manchmal kommt es mir so vor, als stünde genau dieses Weltbild hinter unserem Schulsystem.
Ehrfurcht vor dem Menschen lernen
Es sei Aufgabe der Schulen, den Schülern auf dem Weg zurück in die Ganzheit zu helfen, indem sie uns in völliger Freiheit, denkend mit der Welt und den Menschen wieder verbinden. Das klappt, wenn die Ehrfurcht vor der Einzigartigkeit jedes Menschen wieder zum Erlebnis wird.
Wir brauchen Vertrauen in unser Denken, in unsere Gedanken und die Gewissheit, dass wir die Welt verstehen können. Mit diesem Vertrauen genossen die Schüler dann die ausgelassene Stimmung im Nachtcafé.
Lügenpresse und Berichterstattung
Am nächsten Tag gab es Arbeitsgruppen zum Thema Medien und wie sie unser Menschenbild beeinflussen, zu der Frage, wie wir uns unsere Schule malen wollen, zu den zwölf Weltanschauungen oder den vier Temperamenten.
Es folgte ein Vortrag von Beate Küpper, Professorin an der Universität Bielefeld. Sie sprach über »Vorurteile und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« und wie anhand von Bildern in den Medien unser Menschenbild beeinflusst werden kann.
Den abschließenden Vortrag hielt der ukrainische Journalist Viktor Timtschenko zum Thema »Lügenpresse« und der Unzufriedenheit der Gesellschaft bezüglich der Berichterstattung in den Medien. Es war beeindruckend, wie Timtschenko keine Urteile fällte oder den Vorwurf machte, dass die Medien Unwahrheiten vermitteln.
Er sprach ausschließlich davon, dass in den Medien vor allem Teilwahrheiten vermittelt würden und dass die Berichterstattung deshalb lückenhaft sei. Keine Berichterstattung sei frei von Tendenzen, Färbungen und Wertungen. Ein Journalist könne nur die Teilwahrheiten zusammensammeln und ob am Ende die Wahrheit dabei rauskäme, könne er nicht wissen.
Kritik nur mit Verbesserungsvorschlägen
Abends trafen sich dann alle in der Aula, um Evaluationsbögen für die Unterrichte an ihren Schulen zu erstellen. Es wurden Fragen gesammelt, die man nach oder während einer Epoche gerne vom Lehrer gefragt werden würde, um ein konstruktives Feedback geben zu können. Wer negative Kritik am Unterricht üben möchte, sollte immer einen Verbesserungsvorschlag mitbringen. Auf der Webseite der WaldorfSV soll demnächst ein Beispiel-Evaluationsbogen veröffentlicht werden.
Highlight der Tagung war der bunte Abend: Bühne frei für jeden Schüler, der etwas vorführen wollte. Eröffnet wurde der Abend mit einer Improvisation von Klarinette und Gitarre. Es folgten Poetryslams, Tänze, Lieder am Klavier und an der Gitarre … Jeder Auftritt wurde mit einem lauten Applaus begrüßt – man kam aus dem Staunen nicht mehr raus!
Am nächsten Tag fanden Neuwahlen statt. Für mich waren die zwei Jahre Amtszeit mit dieser Tagung vorbei, denn die Arbeit bei WaldorfSV werde ich im Abiturjahr nicht mehr schaffen. Mir fiel der Abschied schwer, denn mit den Vorstandsmitgliedern waren wir zu einem Team und auch die Arbeit selbst war ein Teil von mir geworden.
Zur Autorin: Ronja Eis ist in der 12. Klasse der FWS Dinslaken, ehemaliges Vorstandsmitglied der WaldorfSV.
Vorstandsmitglieder der WaldorfSV:
Anna Ristow (RSS Hamburg-Wandsbek), Isabel Antrobus-Thorweihe (FWS Heidelberg), Erik Milas (FWS Lippe-Detmold), Jakob Zimmer (FWS Mülheim a. d. R.), Lion Talir (FWS Märkisches Viertel Berlin), Lucas Bauer (FWS Wendelstein), Till Höffner (FWS Dinslaken)
Vorstand
Ronja Eis
ehem. Vorstandsmitglied
Anna Ristow
ehem. Vorstandsmitglied
Erik Milas
ehem. Vorstandsmitglied
Till Höffner
ehem. Vorstandsmitglied
Jakob Zimmer
ehem. Vorstandsmitglied
Lion Talir
ehem. Vorstandsmitglied